(Eine Kurzgeschichte)
Im Dezember 2001 entschloss sich der französische Filmregisseur und Oscar-Preisträger Jean-Xavier de Lestrade zu einem Dokumentarfilm über den Mordprozess gegen den amerikanischen Schriftsteller Michael Peterson. Die Dokumentation begleitet Peterson durch die verschiedenen Prozessphasen und endet 2003 mit der Urteilsverkündung. Obwohl er stets seine Unschuld beteuerte, wurde Peterson für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Film, der später in der Netflix-Serie The Staircase eine bemerkenswerte Fortsetzung erfuhr, zeigt eindrücklich wie die Kinder sowie die erste Ehefrau Petersons vertrauensvoll an seine Unschuld glauben, während andere Familienmitglieder alles daransetzen, seine Verurteilung zu erwirken.
Am Ende bleibt der Betrachter mit verstörenden Fragen zurück:
Können wir uns jemals sicher sein, eine andere Person zu kennen? Hat nicht jeder Mensch Geheimnisse und dunkle Seiten, die er niemandem zeigt? Wie leicht lassen wir uns von unseren Vorurteilen und Fantasien lenken und urteilen über das, was wir nicht verstehen?
Der Dokumentarfilm von Jean-Xavier de Lestrade gilt als kritische Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Justizsystem und tatsächlich kommt es auch im Falle Petersons 2011 zu einem Wiederaufnahmeverfahren, nachdem bekannt wurde, dass wichtige Beweismaterialien der Anklage gefälscht waren.
Als wir vor Kurzem im Tessin mit Freunden auf der Terrasse eines Restaurants saßen, und schweigend die auf dem See tanzenden Lichtreflexe der untergehenden Sonne beobachteten, fiel unser Blick auch auf ein seltsames Paar, das sich, rechter Hand nicht weit von uns, auf einem Liegestuhl räkelte. Die etwas erhöht gelegenen Terrasse bot uns freien Einblick in die äußerste Ecke des anschließenden Campingplatzes, genauer gesagt auf die ersten Parzellen hinter dem Drahtzaun, der den öffentlichen Strand vom Campingareal trennt.
Was unsere Aufmerksamkeit erregte und, wie sich herausstellen sollte, unsere Fantasie befeuerte, war der ältere Herr, der dort, rücklings und mit weit gespreizten Beinen auf seinem Liegestuhl Körper und Gesicht der Abendsonne zugewandt hatte. Zwischen seinen Beinen und halb auf dem Bauch des älteren Herrn ruhte, ebenfalls auf dem Rücken liegend und alle Viere von sich streckend, ein mittelgroßer, grauhaariger Pudel.
Schon diesem ersten Anblick der Liegestuhl-Szene hing etwas Irritierendes an, das sich unseren Gehirnen aber erst bei weiterem und intensiverem Hinsehen erschloss. Der Mann, nur mit Badeshorts bekleidet, hatte beide Hände in die himmelweit geöffnete untere Körperhälfte des Pudels gelegt, wo seine Finger liebevoll kreisend die weiche Innenseite der Hinterläufe kraulten. Der Kopf des Tieres ruhte auf dem Bauch seines Herrchens, völlig entspannt und zur Seite geklappt, die Zunge halb aus dem leicht geöffneten Maul hängend. Um den Hals des Hundes wand sich eine dieser blauen, ausblasbaren Halskrausen, wie sie nach OPs zum Einsatz kommen, damit die Tiere nicht ihre Wunden lecken. Hier allerdings erinnerte uns der Anblick eher an Flugreisende mit Nackenkissen, die zuvor drei Diazepam geschluckt haben. Unterbrochen wurde dieser tranceartige Zustand lediglich von kurzen Zungenbewegungen des Pudels, mit denen er in regelmäßigen Abständen dankbar über den Bauchnabel seines Herrchens fuhr.
Überhaupt schien das ungleiche Paar in einer Art genüsslichen Verzückung vereint zu sein, eingehüllt in eine exklusive Intimität und Vertrautheit, die nur ihnen gehörte. Die Augen des älteren Mannes waren leicht geschlossen, die Lippen einen winzigen Spalt geöffnet, so als döse er dem Nachtschlaf entgegen, doch verriet das beständige Kreisen seiner Hände in den Leisten des Hundes einen letzten Rest Tagesbewusstsein.
Unsere voyeuristische Aufmerksamkeit, die sich nun ausschließlich dem seltsamen Schauspiel dort hinter dem Drahtzaun zugewandt hatte, scannte die Umgebung nach Spuren weiterer Familienmitglieder ab. Aber vor dem Wohnwagen befanden sich ansonsten lediglich ein Paar Wanderstiefel und ein einzelner Klappstuhl. Also waren die beiden allein verreist – ohne Frauchen. Oder gab es gar kein Frauchen? Lag da auf dem Liegestuhl ein verwitweter Rentner, der sich mit seinem Haustier über den Verlust seiner kürzlich verstorbenen Ehefrau hinwegtröstete? Besser ein Tier als niemanden? Oder stand der Pudel an erster Stelle? Gab es jedes Mal, wenn Herrchen nach Hause kam, schon an der Tür wilde Begrüßungsorgien, während der Frau nur ein schnödes „Hallo“ zugeworfen wurde?
Unsere blühenden Fantastereien rochen förmlich das finstere Geheimnis, das das ungleiche Paar umgeben mochte, so dass die einander zugeraunten Deutungen immer buntere Blüten trieben. Schlief der Pudel im gemeinsamen Bett und war die unliebsame Konkurrentin schließlich des Platzes verwiesen worden, oder war ihre Anwesenheit gar so unerträglich geworden, dass sie eines Nachts unglücklich die Treppe hinabstürzte?
Einer Studie zufolge haben 35 Prozent aller Hundebesitzer eine engere Beziehung zu ihrem Vierbeiner als zu einem Menschen, und unsere Freunde wussten zu berichten, dass Karl Lagerfeld eine ausgeprägte Liebe für seine Katze Choupette empfunden haben soll – mehr als für jeden Menschen.
Als die Polizei am vergangenen Montag im Berliner Stadtteil Zehlendorf eine Frauenleiche, fand, deutete alles auf einen tragischen Unfall hin.
Die Tote war von Nachbarn vor ihrem Wohnhaus aufgefunden und nachdem die Polizei eingetroffen war, schwerverletzt in das nahegelegene Krankenhaus gebracht worden, wo die Ärzte allerdings nur noch den Tod der 63-Jährigen feststellen konnten.
Später gaben Zeugen an, kurz vor dem Todessturz einen Streit in der Wohnung bemerkt zu haben. Ausgerissene Haare auf dem Fußboden sowie Kratzspuren an den Wänden untermauerten die Annahme, dass sich die Frau vor ihrem Tod heftig mit ihrem Ehemann gestritten hatte. Allem Anschein nach wurde sie dabei tödlich verletzt: Bei der Obduktion ihrer Leiche fand man mindestens vier Knochenbrüche, die nicht mit der anfänglichen These, sie sei durch einen Sturz gestorben, in Einklang zu bringen waren. Sogar der Hund des Paares hatte bei dem Handgemenge zwischen den Eheleuten Verletzungen am Hals davongetragen.
Nach seiner Verhaftung, die der Täter widerstandslos über sich ergehen ließ, gab er zu Protokoll: "Ich habe drei Ehepartner ausgetauscht, aber mein Hund Bruno blieb immer bei mir."
Viel merkwürdiger als die Szene auf dem Campingplatz oder die Ereignisse jener Nacht, sind die Gefühle und Fragen, die in unseren Köpfen entstehen und uns einige Zeit durch unser Leben begleiten.

Foto: Jens Galler
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