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Enno


(Romanfragment)

Enno ist ein Freund.

Keiner, den ich aus meiner Schulzeit kenne. Kein Berufskollege wie Tim, mit dem ich regelmäßig in Projekten zusammenarbeite oder donnerstags nach Büroschluss ein Glas Wein trinke oder der gelegentlich mit seiner Freundin zu uns zum Abendessen kommt. Mit Tim hat sich eher so eine Art Komplizenschaft entwickelt. Wir kommen morgens zur gleichen Zeit in die Firma, meist mit ähnlichen Ideen im Kopf und im Gegensatz zu den anderen prinzipiell ohne Krawatte. Wir lachen über diese harmlose Manier. Die Arbeit gibt uns den Rahmen vor, sie ist das Feld, auf dem wir uns austoben, sie ist unsere Spielwiese. Wir sind Verbündete. Komplizen auf Zeit.

Enno kenne ich weder von Kindesbeinen an, noch arbeiten wir in der gleichen Branche. Der Zufall hat uns vor ein paar Jahren Tickets für dasselbe Konzert kaufen lassen. Wegen der großen Nachfrage war der Saal dicht bestuhlt, ich hatte mich zu kurzfristig entschlossen und deshalb nur einen Platz hinter einer fetten, grauen Betonsäule ergattert. Block B, Reihe 16, außen links. Mit den Knien an der Säule saß ich kerzengerade auf einem der polsterfreien Klappstühle, die man offenbar zusätzlich herbeigeschafft hatte. An die Lehne war mit schwarzem Edding Nummer 45 geschrieben, ich saß wie in einem vollgepackten Billigflieger, wenn vor dem Fenster Regenwolken vorbeischwimmen, du sowieso nichts sehen kannst und die gemeinsame Armlehne von dem selbstbewussten Ellbogen deines Sitznachbarn belegt ist. Ich sah kurz zu Nummer 44 hin. Ein Mittfünfziger mit breiten Schultern und rot-weißem Ringelshirt. Gerade beugte er sich etwas umständlich nach rechts hin, zu der jungen Frau neben ihm, er murmelte Sorry, reckte den Hals Richtung Bühne, sagte laut hörbar Scheiße, dass das Pärchen vor ihm die Köpfe drehte, anschließend lehnte er den Oberkörper auf die andere Seite in meine Domäne hinein, deutlich über die Armlehne hinaus, sagte wieder Sorry, und Keine Sicht, schlechte Akustik, Scheiße. Ich sagte, absolut. Dann saß er gerade, mit zusammengekniffenen Lippen, die Hände zwischen seine Knie geklemmt.

Als die Band loslegte, knallten Bass und Schlagzeug auf der einen Seite der Säule vorbei, ich dachte, jemand tritt mit den Füßen gegen einen leeren Mülleimer. Die Mikrofon- und die Gitarrensignale überholten sich auf der anderen Seite, die Saaldecke warf die Bruchstücke der sich überlagernden Frequenzen wieder zurück. Keine Chance. Es klang wie auf diesen schrecklichen Instagram reels. Etwa zwanzig Minuten später fing ich einen entnervten Blick von Nummer 44 auf, seine braunen Pupillen verschwanden rollend oben unter den Augenbrauen, rollten zurück und hielten mich fest wie einen Gegenstand. Sein Mund lächelte und sagte: „Bier, oder?“

Ob ich mich zu jemandem hingezogen fühle, ist normalerweise blitzschnell klar. Bei Enno mochte ich von Anfang an seinen direkten Humor und seine nachdenkliche, fast erschreckend ernste Art zuzuhören. Mit zur Seite geneigtem Kopf, die buschigen Augenbrauen zusammengezogen und den Mund ein wenig gespitzt. Enno hat pechschwarze, in einer leichten Fünfzigerjahre-Welle nach hinten gegelte Haare und trägt Rockabilly T-Shirts mit Hosenträgern drüber. Mit diesem Gesichtsausdruck, wenn er so wesentlich wirkt, einfach dasitzt und schweigend zuhört, erinnert er mich immer an Al Pacino in The Godfather. Keine Ahnung, ob er das weiß und deswegen so schaut.

Aber das entscheidende Detail, das den Impuls für diese Anziehungskraft gab, stammt nicht von jenem missglückten Konzertbesuch oder unserer anschließenden Kneipentour. Es gehört zu einem Sommerabend einige Wochen später und lag zunächst unterhalb meiner bewussten Wahrnehmungsgrenze. Denn, dass der Beginn unserer Freundschaft durch ein paar unerwartete Tränen besiegelt wurde, weiß ich erst, seit ich mir Gedanken zu diesem Text machte.

Ich sollte für ein Magazin über Freundschaft schreiben. Über Verlust, über unterschiedliche Lebenswege und die Illusion von guten alten Zeiten. Ich tat mich schwer, strich mehr durch, als dass ich stehen ließ, da fiel mir unvermittelt dieser Abend wieder ein. Wir aßen Käse, Trauben und Weißbrot, unter einer mit wildem Wein bewachsenen Pergola, zu viert mit unseren Frauen und führten leichte, sommerliche Gespräche. Die Hitze des Tages hatte sich zurückgezogen, deshalb standen im Nachbarhaus die Fenster weit geöffnet, Musik drang zu uns herüber und lehnte sich unaufdringlich, fast zart an unser Sprechen an. Worüber wir geredet haben, ist mir entfallen, es spielt auch keine Rolle. Woran ich mich aber genau erinnere, ist, wie mit einem Mal meine ganze Aufmerksamkeit zu der Musik hinflog. Neil Young. Don´t let it bring you down, von dem Götter-Album After the Gold Rush.

Schon bei den ersten Tönen lief mir ein warmer Schauer über Rücken und Arme. Als ob jemand meinen Namen gerufen hätte. Jemand, den ich lange nicht gesehen, aber vermisst hatte. Sofort erkannte ich das Gefühl, den Zustand, in dem ich mich befunden hatte, als das Album vor vielen Jahren zum ersten Mal auf meinem Plattenteller lag: Find someone who´s turning and you will come around. Der Text, der eindringliche Gesang, die Harmonien, die Erinnerung. Von einem Moment auf den anderen lag meine Seele offen. Blank. Verwundbar.

Ich hätte die Augen schließen oder etwas auf dem Boden fixieren können, warten, bis das Lied vorüber und ich wieder Herr meiner Gefühle gewesen wäre, aber aus einem seltsamen Grund drehte ich den Kopf zu Enno hin. Über seine Wangen rannen Tränen. Die er nicht zu verbergen suchte. Nicht wegwischte. Sondern einfach nur sagte: Schön, nicht?

Diese Sekunde des kurzen gegenseitigen Einverständnisses – so bin ich, du darfst das sehen – diese kaum wahrnehmbare Intimität, dieser flüchtige Augenblick waren der Beginn unserer Freundschaft.




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