top of page

Erinnerung (Kurzgeschichte zu ersten Begegnungen und die Erinnerung daran)

  • Autorenbild: Hannes Jahn
    Hannes Jahn
  • 30. Apr.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Aug.

Zu seinen frühesten Erinnerungen an Lunas Mutter gehört folgendes Bild: Sie sind erst vor wenigen Minuten angekommen, der lange, unbequeme Flug steckt ihm noch in den Knochen, aber Luna will sofort Schwimmen gehen. Ich will ihm den Strand zeigen, sagt sie zu ihrer Mutter. Von diesem Strand, von dem dazugehörenden Meer, hat er schon so viel gehört, in Lunas überschwänglichen Erzählungen, dass es nun, da sie sich genau an diesem Ort befinden, nur konsequent erscheint, noch vor dem Auspacken, noch vor den Geschenken, Strand und Meer zu besuchen.

Luna hakt ihre Mutter unter, zieht sie einfach mit sich, beide streifen im Gehen ihre Schuhe ab, schlendern barfüßig und lachend durch das frisch gemähte Gras zwischen den Kiefern, wie zwei Freundinnen, die sich lange nicht gesehen haben. Im Gegenlicht der Nachmittagssonne, das ihre Umrisse weichzeichnet, scheinen die beiden Frauen zu einer Einheit zu verschmelzen, die sich nur zeitweise in die jeweils eigene Gestalt löst. Ihre Mutter trägt ein helles Sommerkleid, das ihr um die Beine weht, ihr kurzgeschnittenes weißes Haar wirft Sonnenstrahlen zurück, eine dunkle Sonnenbrille schützt ihre Augen. In ihrem aufrechten Gang wirkt sie elegant, fast vornehm. Luna dagegen, in ihrem schwarz-städtischen Punk-Outfit hopst und gestikuliert und lacht und redet.

Alles ging leicht. Das Ankommen am Flughafen. Ein Augenpaar in der Menge, der erste Blickkontakt mit den hell-leuchtenden Pupillen ihrer Mutter, eine Umarmung, überraschend und unbefangen, als wäre es nur ein Wiedersehen, nicht eine allererste Begegnung. Ihre Hände hielten seine Handgelenke fest, für einen kurzen Moment nur, für eine stumme, gegenseitige Versicherung. Auf der Fahrt unverdorbene Sätze, im Augenblick des Sprechens gepflückt wie frisches Obst, keine vorbereitete Erzählung von sich selbst: Wer ist er, oder wer möchte er von nun an sein, da er hier ist?

Auch als er es jetzt den beiden gleichtut und ebenfalls die Schuhe auszieht, seine noch blassen Füße auf das noch fremden Gras setzt, geht das leicht. Die wenigen Schritte über den Hügel, dahinter das Auftauchen des Meeres, dem er später so viele Geschichten erzählen und das immer geduldig zuhören wird, sogar dieses damals noch unbekannte Meer wirft ihm zur Begrüßung Millionen glitzernder Lichtreflexe zu.

Luna rennt voraus, kann es kaum erwarten, ihre Zehen in den warmen Sand zu graben, sie jauchzt und springt wie ein glückliches Kind, winkt ihrer Mutter, die zurückwinkt, ihm ruft Luna zu, Komm, zieh dich aus, dann streift sie ihre nachtschwarze Haut ab, Jeans und T-Shirt fliegen in den Sand, kreischend stürzt sie sich den Wellen in die Arme. Mach schon! Da strampelt auch er seine Hose von den Beinen, vor den Augen ihrer Mutter, unfassbar eigentlich, es ist ein Schweben wie eine leichte Trance. Lächelnd, den Freudentaumel ihrer Tochter verfolgend, mit einem Blick, der mit dem Wiedererkennen der Tochter ganz von vorne anfängt, als ob ihre Augen das Glück des eigenen Kindes zum ersten Mal erfassten, ein Blick, der Sekunden später auch ihn miteinschließt, steht Lunas Mutter dort, wo die Wellen sich im Sand verlaufen und ihre Zehen berühren. Danach spazieren sie schweigend am Strand entlang, die letzten Sonnenstrahlen ihre Nacktheit trocknend.

Später haben sie sich diese Begebenheit oft gegenseitig erzählt und gelacht. Aber in den Tagen danach überlegt er, was die Unbekümmertheit dieser ersten Begegnung mit Lunas Mutter ausmachte, worin dieses besondere Vertrauen begründet lag, das vom ersten Augenblick an zwischen ihm und ihr bestand. Ihre Umarmung in der Ankunftshalle des Flughafens hatte etwas Unerklärliches. Die Art, wie sie seine Handgelenke umklammerte, wie ihre Daumen zart über seine Haut strichen, dieser kurze Augenblick glich einer Einladung, einer Öffnung, so kam es ihm vor. Sie öffnete eine Zukunft. Heute denkt er nicht mehr darüber nach. Heute weiß er, dass sie nichts über ihn wissen wollte, über seine Vergangenheit. Über diesen unbekannten Mann musste sie nichts erfahren, was vielleicht zur Bedingung für ihr Vertrauen werden könnte. Sie sah ihm einfach in die Augen und wollte ihm Raum für eine Zukunft schaffen. Bedingungslos. Du bist der, den meine Tochter liebt, und nun gehörst du zur Familie.

 

Warum ihm das einfällt: Inzwischen sind viele Jahre vergangen, und jener Strand und das Meer sind längst sein Zuhause geworden. Lunas Mutter lebt nicht mehr. Ihr Körper ist vorausgegangen. Aber ihr Geist wohnt noch immer zwischen den Kiefern und dem sanften Gras, von wo man hinuntersieht auf den Strand und das Meer.

Wenn er und Luna heute nach dem Essen auf der Veranda in der Dunkelheit sitzen, jeder ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee in der Hand, denkt er manchmal voller Zugewandtheit und Zärtlichkeit an dieses Bild. An die Besonderheit seiner ersten Begegnung mit ihrer Mutter, an ihre Umarmung, ihre Einladung, ihr Lächeln am Strand. Wenn er es so vor sich sieht, weiß er, dass er angekommen ist.


Der Strand vor dem Meer

Foto: Laura Gene Wall, 2024

 

Kommentare


Wer mit mir Kontakt aufnehmen möchte, kann gerne eine E-Mail senden an: info[at]artanalog[dot]de
Ich bemühe mich alle Anfragen zeitnah zu beantworten.

Schreib mir deinen Kommentar

Danke für deine Nachricht.

Impressum     Datenschutz     AGB

© 2023 artanalog.de

bottom of page