Im Osten
- Hannes Jahn
- 8. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Den wilden Orgeln des Wintersturms
Gleicht des Volkes finstrer Zorn,
Die purpurne Woge der Schlacht,
Entlaubter Sterne.
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Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen
Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.
Im Schatten der herbstlichen Esche
Seufzen die Geister der Erschlagenen.
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Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.
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 Auf obenstehendes Gedicht von Georg Trakl bin ich (wieder einmal) gestoßen, weil es indirekt Erwähnung findet in „Baumgartner“, Paul Austers wunderschönem, letzten Roman.
Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und in äußerster Verzweiflung kurz vor seinem eigenen Einsatz an der ostgalizischen Front bei Gródek, notiert Trakl in düsteren Bildern, was heutigen, in ihrem Empfinden nicht völlig abgestumpften Lesern genauso erschrecken muss wie die Aufnahmen aus Gaza oder von den ukrainischen Frontverläufen.
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Unweit von Gródek (unter ungarisch-österreichischer Herrschaft; heute ukrainisch Horodok genannt), etwas weiter im Südosten, liegt das Städtchen Iwano-Frankiwsk (unter deutscher Nazi-Herrschaft Stanislau genannt), in welches Paul Auster seinen Protagonisten Baumgartner eines Tages reisen lässt. Baumgartners Großvater, den er kaum gekannt hat, stammte aus jenem Ort, und ohne recht zu wissen, was es dort für ihn zu finden gäbe, lässt sich Baumgartner nach einem langen Spaziergang durch die Stadt mitten auf dem größten Platz auf einem der freien Stühle eines hübschen Straßencafés nieder. Er erinnert sich an Erzählungen des Großvaters und hat selbst recherchiert, dass hier, nur wenige Meter entfernt von ihm, zwischen 1941 und 1943 ca. 40.000 Juden von der SS ermordet wurden. In mehreren bestialischen Erschießungsaktionen zusammengetrieben, in Kolonnen zu je zweihundert aufgestellt und erschossen. Die Hälfte der damaligen Bevölkerung. Als die Nazischergen vertrieben waren, und im Juli 1944 die Sowjetarmee in Stanislau einmarschierte, floh die andere Hälfte der Bevölkerung. Die grausamen Verfolgungen und die Ermordungen nahmen kein Ende.
Baumgartner blinzelt in die Sonne. Gedankenversunken registriert er Menschen und Autos, die auf dem Platz vor ihm vorüberziehen. Trakls Gedicht kommt ihm in den Sinn. Die Wölfe, die durch das Tor hereinbrechen.
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„Ich ließ meinen Blick über den Platz wandern und versuchte, ihn mir im Sommer 1944 vorzustellen, all die ihren Besorgungen nachgehenden Menschen verschwunden, wie ausradiert aus der Szene, und da begann ich die Wölfe zu sehen, Dutzende Wölfe, wie sie in kleinen Rudeln über den Platz liefen, auf der Suche nach Nahrung in der verlassenen Stadt. Die Wölfe sind der Endpunkt des Albtraums, sagte ich mir, das äußerste Resultat der Dummheit, die zu den Verheerungen des Krieges führt, in diesem Fall zu der Ermordung von drei Millionen Juden und ungezählter Zivilisten und Soldaten ... in den blutgetränkten Landstrichen des Ostens, und kaum ist das Schlachten beendet, stürmen wilde Wölfe zu den Toren der Stadt hinein. Die Wölfe sind nicht nur Symbole des Krieges, sie sind die Ausgeburt des Krieges und dessen, was Krieg über die Erde bringt.“ (Paul Auster: Baumgartner. Rowohlt Verlag Hamburg, 2023)
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Ich lege den Roman beiseite, an einem normalen Nachmittag mitten in der Woche und blicke gedankenverloren auf den kleinen Platz vor mir. Wieder ist das Heulen ultranationalistischer, rassistischer und gewalttätiger Wölfe zu hören. Im Süden und im Osten Europas, an den Grenzen der Ukraine, in Israel und Palästina bis tief hinab zum Persischen Golf, im Westen, jenseits des Atlantiks, brechen sie in Rudeln zu den Toren herein. Sogar in meinem eigenen Land, in meiner eigenen Stadt, noch vor den Toren zwar, noch halbwegs verdeckt in der dornigen Wildnis, doch längst bereit, loszuschlagen, in einem erneuten entsetzlichen Wintersturm.
