top of page

Zwischenspiel

(Eine Kurzgeschichte)

Nach längerem Aufenthalt in den ehemals vereinigten Staaten sitze ich endlich wieder zu Hause vor dem Schreibgerät, an dem schmalen Holztischchen vor dem Fenster zum Garten. Mein Blick geht nach draußen, zu den schneeweißen Wolken am heimatlich-strahlenden Himmel. In meiner Hand der Espresso, den ich in Übersee so sehr vermisste, in der kleinen, schweren Tasse mit dem dicken Rand, wie es sich gehört, die Tasse, die mir einst ein freundlicher Barista im frühlingshaften Palermo schenkte.

Ach, das Reisegepäck der Erinnerung! Überhaupt: Erinnerungen. Obwohl ich mir einbilde, selbst zu entscheiden, woran ich mich erinnern will, bewusst oder unbewusst, ist es ja genau umgekehrt: Die Erinnerung kontrolliert mich! Sie findet mich, drängt sich mir auf und lässt mich nicht mehr zur Ruhe kommen.

Ganz anders als die Wochen in Sizilien damals, an die ich gerne zurückdenke, erlebte ich die letzten Monate in Übersee. In vielen, teilweise unfreiwillig geführten, Gespräche haben sich Eindrücke und Einkerbungen in meinem Gedächtnis eingegraben, dass es mir die Brust zuschnürt. Noch jetzt, ein paar Wochen danach, legt sich ein erschöpfender Widerwille auf das Erinnern. Fortwährend, so will es mir das Gedächtnis glauben machen, fragte man mich nach meiner Meinung in dieser oder jener Sache, ich sollte meinen Standpunkt erläutern, ob ich mich mit dem einen oder dem anderen identifizieren wolle. In Zeitungsartikeln, in den täglichen Nachrichten der liberalen wie der konservativen Medien: Bekenntniskultur.

Auch unter Freunden und Bekannten oder im Familienkreis, stets sah ich mich diesen aussichtlosen Fragen und verfahrenen Zuspitzungen ausgesetzt: „Bist du für oder gegen das Recht auf Abtreibung?“, „Glaubst du an Gott oder die Wissenschaft?“, „An den Kreationismus oder an die Evolution?“, „An die Klimakrise?“, „Geschlechtsidentität schon in der Schule? wohl nicht, oder?“, und natürlich die allgegenwärtige Monsterfrage: „Trump oder Biden?“. Republikaner gegen Demokraten oder umgekehrt, links und rechts, wo ich auch hinsah, schwarz und weiß, liberal und konservativ, überall, so schien es mir, selbsternannte Gotteskrieger, im wütenden Kampf gegen Schwule und Lesben, gegen Migranten und Muslime, gegen Wissenschaft oder Religion. You name it. Make America great again. Immer wieder unbehaglich drängende Aufforderungen sich festzulegen, sich zu positionieren. An dem einen Pol, oder falls nicht, dann doch notwenigerweise am entgegengesetzten Ende der sich abstoßenden Möglichkeiten.

Ein Bild schiebt sich vor mein geistiges Auge: Der Fernsehbericht über die Entscheidung eines südlichen Bundesstaates, keine Schwangerschaftsabbrüche mehr zuzulassen. Weder bei Vergewaltigungen noch in Fällen von Inzest. Vor dem Gerichtssaal Demonstrierende, die schimpfend ihre selbstgemalten Plakate in die Kamera halten. „Jesus rettet!“ steht auf dem einen, „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ auf dem anderen. Filterblasen, die sich gegenseitig auszuspielen versuchen. Dazwischen nichts.

Unbehagen, finstere Beklemmung – Reisegepäck meiner Erinnerungen. Ich blicke auf die Tastatur meines Schreibgeräts und denke an die Worte, die ich aus Höflichkeit unterdrückte, an die Gedanken, die zu denken in der fatalen Zuspitzung keine Zeit blieb, und an die Sätze, die, kaum ausgesprochen, im hitzigen Widerspruch der Rechthaberei verdampften wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.

Dazwischen nichts? Doch! Das Feld der Selbstoptimierer. Wer sich noch nicht festgelegt hat, seine Identität noch nicht erklärt hat, schwimmt im Strom des Geläufigen und Beliebigen, immer auf der Suche nach einem besseren Ich. Erfinde Dich neu! In Online-Yoga-Kursen, Body-Positivity in unzähligen Nutrition-Feeds, TV-Shows und Podcasts: um immer neue Möglichkeiten kreisende Identitätsblasen im Inszenierungszirkus unserer Tage. Wer bin ich? Die Antwort gibt ein elfstelliger Code, der mindestens ein Interpunktionszeichen, einen Großbuchstaben und mehrere Ziffern enthält. Willkommen im digitalen Supermarkt! Wirtschaft und Zeitgeist Hand in Hand.

Das Erfinde Dich neu! ist keine emanzipatorische Bewegung, keine Aufgabe mehr, keine lohnende politische Arbeit, sondern das Postulat eines omnipotenten Marktes. Alle schwimmen im Mainstream, den Kopf unter Wasser. Orientierung gibt nicht der eigene Überblick, sondern die Ferse der Vorderfrau. Die Suche nach dem Ich findet nur in den eigenen Medien und sich gegenseitig ausgrenzenden Foren statt. Die Frage der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Gleichberechtigung zersplittert in tausend polarisierende Fraktionen. Cancel Culture. Moralische Überlegenheit per Identität.

*

Ich massiere meinen schmerzenden Nacken, sperre den Mund auf soweit ich kann, mehrmals hintereinander, auf und zu, damit meine verkrampften Kiefermuskeln sich wieder lösen. Dieser viel zu spät hervorquellende Groll, meine nachträgliche Entrüstung, so feurig sie daherkommen, sie sind genauso simpel und einseitig, wie die Sprüche auf den Plakaten. Man kann Spaltungen nicht überwinden, indem man neue Keile treibt.

Nick Cave fällt mir ein. Der Sänger, der Schmerzensmann, der letzte Botschafter. Ein Bruder im Geiste, wie man so sagt, wenn man eine besondere Nähe und Verbindung kennzeichnen möchte. In seinen veröffentlichten Briefen The Red Hand Files schreibt er: “Three of my favourite words, and ones I find myself using more and more these days, are ‘Having said that’. I am also fond of saying ‘On the other hand’, and … ‘However’. I like all of these phrases because they acknowledge one point of view but also tender another, they preface the presentation of a stabilising counterargument. This is something not much liked in our contemporary culture, it is unpopular on social media that trades primarily in a currency of performative moral outrage. ‘Having said that’ is the bothersome and deflating enemy of polarisation, self-righteousness, intolerance and hubris” (Issue #267, December 2023).

Die Formulierungen, gefallen mir, weil sie etwas lästig und unbequem sind. Doch, um nicht selbst in die Falle der Rechthaberei zu tappen, käme es wahrscheinlich darauf an, mit welcher Tönung das `Aber´ gesprochen wird. Cave plädiert für Empathie, Offenheit und Toleranz. Für das Sowohl als auch. Das Dazwischen. Das Spiel.

Ich rücke den Stuhl näher an das kleine Tischchen heran. Noch einmal: Das Spiel! Künstler, gute Schauspieler und Autoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in fremde Lebenswelten einfühlen können. Nicht die Abschottung der eigenen Identität und die Verteidigung einer beliebigen Meinungsblase. Vielmehr die Kunst, Zwischenräume und Unsicherheiten auszuhalten, Nuancen zu suchen, um darin Qualität und Schönheit zu entdecken. Sandra Hüller kommt mir in den Sinn, die in ihrem Spiel genau diese Zwischenräume auslotet, die den Zwiespalt ihrer Figuren aushält und darin eine großartige Qualität schafft. Und noch eine andere Erinnerung drängt sich auf: Die Geschichte, wie sich 1958 das Sextett von Miles Davis entwickelt hat. Es bestand aus sechs schwarzen Musikern, bis Davis den Pianisten Red Garland durch den Weißen Bill Evans ersetzte. Die Gruppe spielte vor allem in Clubs für Schwarze, und junge Fans hatten mit der Identität des Pianisten Probleme. "Was hat der Weiße da zu suchen?" war noch eine der harmloseren rassistischen Schmähungen, die sich Bill Evans anhören durfte. Seine Bandkollegen verteidigten ihn: "Miles will ihn da haben - er gehört da hin! Er ist der Beste für unsere Musik, wie wir sie spielen!" Es ging um die Entdeckung von neuen musikalischen Nuancen, um Qualität, um die Bereicherung des Spiels.

Aber was heißt das nun für meinen Umgang mit spaltenden Fragen? Seit ich wieder zurück in Deutschland bin, begegne ich hier ganz ähnlichen Scheindebatten, die nur Recht haben und kein Gegenargument gelten lassen wollen. Der mörderische Krieg in Gaza, das Erstarken der AfD oder die Zahl der Migranten: Zementierte Ansichten, lautstarke Parolen und ausgrenzendes Verhalten.

Positionen aushalten ohne auszugrenzen. Zuhören ohne zu verurteilen. Zeit nehmen zu widersprechen. Widersprechen und dennoch ernst nehmen. Meine Emotionen und die der Anderen. Kierkegaard schreibt: Angst ist der Schwindel der Freiheit. Die Angst zu widersprechen. Die Angst etwas Falsches zu sagen. Die Freiheit eines offenen, toleranten Miteinanders.

*

Vorbeiziehende Wolken vor dem Fenster fangen meinen Blick. Es wird bald regnen. Grau-bleiches Wasser von den wilden Buchten der Ostküste der USA, herüber gespült und getragen von der anderen Seite des Atlantiks. Von wo die immer gleichen Wellen ihre Fracht an die Klippen des westlichen Europas werfen. Und umgekehrt treibt doch von hier, von den westlichen Stränden Portugals oder Englands, eine hoffnungsvoll ins Wasser entlassene Flaschenpost irgendwann vor die Füße eines der hohen, stolzen Leuchttürme Maines.



 Foto: Laura Gene Wall, 2023

bottom of page