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Nadelöhr und Sehnsucht

(Eine Kurzgeschichte)

Dieses Foto: Maria und Josef mit dem Jesuskind!

Die Aufnahme einer Miniatur, die Großmutter wohl von einer ihrer Reisen mitbrachte. Ganz unten in der grauen Schachtel mit dem roten Band, in der Mutter die letzten Habseligkeiten von Großmutter aufbewahrte.

Geradezu hineingequetscht, die heilige Familie, in eine Art Stroh- oder Basthütte, die auf der Außenseite mit kräftigen südamerikanisch anmutenden Farbornamenten bemalt ist, wie man sie von Ponchos oder mexikanischen Sombreros kennt. Die Hütte selbst ist kaum größer als ein Fingerhut. Diese kleinen, silbernen Dinger, die sich Großmutter früher an den Zeigefinger steckte, wenn sie einen Knopf an eines von Großvaters Hemden nähen musste.

Ich erinnere mich, wie sie da bei schlechtem Licht im Wohnzimmer saß und die Nadel durch eines der winzigen Knopflöcher zu zielen versuchte. Es muss ihr Mühe bereitet haben, denn sie atmete hörbar durch ihre fahlen, dünnen Lippen. Ein angestrengtes, pfeifendes Geräusch der Konzentration, das aber kurz darauf von einem leisen Kichern abgelöst wurde, wenn die Nadel mal wieder die kleine Öffnung verfehlt hatte.

Viel größer als ein Hemdknopf ist auch der Eingang dieses mexikanischen Stalls nicht, durch den der Betrachter auf die Figurengruppe schaut. Maria, den Kopf zwischen die schmalen Schultern gezogen und geduckt unter der niederen Balkendecke, hat den Blick fest auf das Kind in der Strohkrippe gerichtet. Mit der einen Hand hält sie ihren himmelblauen Wollumhang vor der Brust und gegen die Kälte verschlossen, die andere streichelt dem Kind zärtlich den Kopf.

Etwas abseits von den beiden Josef. Er wirkt angespannt, auf eine irritierende Art ernst. Zwar ist sein kniender Körper ebenfalls dem Neugeborenen zugewandt, der Blick aber geht nach draußen. Seine Augen scheinen einen fernen Punkt zu fixieren. Fast wie Großmutters Nadel auf ihrem Weg durch den widerspenstigen Stoff auf die winzige, helle Öffnung des Knopflochs zu. In Josefs Blick und an seinen Gesichtszügen glaubt man eine unbedingte Dringlichkeit zu erkennen. Die hohe blanke Stirn, die tiefliegenden, klaren blauen Augen und die etwas gekrümmte Nase, sogar der strenge, fest geschlossene Mund, signalisieren eine Entschlossenheit, die über das familiäre Idyll hinausgeht. Ein inneres Streben, eine Ahnung oder eine Sehnsucht vielleicht.

Hat Großmutter deshalb die Aufnahme dieser merkwürdigen Miniatur in ihren Sachen aufbewahrt? Weil sie in dem Blick Josefs ihre eigene Sehnsucht nach der Ferne, nach dem Unbekannten, dem Offenen erkannte? Sah sie in Josef einen Seelenverwandten? Ihre eigenen Fluchten aus dem stets als zu eng empfundenen Familienkorsett. Sie hat mir oft von ihren Reisen erzählt. Kurz nach Kriegsende und kaum fünfundzwanzig Jahre alt, allein mit dem Orientexpress von Paris nach Istanbul. Dann 1963 in die USA, weil sie unbedingt Martin Luther King reden hören wollte und danach weiter nach Mexiko. Oder Jahre später, als sie mich auf den Rücksitz von Vaters Opel Kapitän packte und mit mir nach Griechenland verschwand. Mutter und Vater hatten gerade das neue Geschäft eröffnet und konnten deshalb in den Sommerferien nicht wegfahren. Schwankend zwischen Bewunderung und Sorge sah Mutter dem davonbrausenden Auto hinterher, während Vater um sein neues Auto bangte. Wir haben im Freien geschlafen, unter den Sternen, auf den Holzbänken der Fähre, ich bin an ihrer Hand die endlosen Stufen zu den Klöstern hinaufgeklettert und habe zum ersten Mal meinen Kopf in salziges Meerwasser getaucht. Es war herrlich. Als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Für Großmutter war es das wohl auch. Die Unbekümmertheit einer selbstbestimmten Frau, die ihre Unabhängigkeit nie aufgeben wollte und ihren Freiheitsdrang nie wirklich bändigen konnte.

Selbst bei meinem letzten Besuch im Altersheim, drei Tage vor ihrer letzten großen Reise, schöpfte ihre schon verwirrte Erinnerung aus der nie versiegenden Quelle ihrer Sehnsucht. Mit leuchtenden Augen schwärmte sie von einem gemeinsamen Mittagessen mit Mao Zedong.

Zögernd und nachdenklich lege ich das Foto zurück. Ich frage mich, welche Gedanken diesen mexikanische Josef bewegen, welchen Reisen und Abenteuern er entgegenblickt? Jetzt, vor dem Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt. Nadelöhr und Sehnsucht. Das Bild flirrt verschwommen vor meinen Augen.

Doch bevor ich eine Antwort erhalte, knüpfe ich das rote Band um die Schachtel und stelle die Kiste wieder an ihren Platz. Auf dem Speicher, in Mutters ehemaligem Kleiderschrank, neben meine alten Spielsachen.



Foto: Laura Gene Wall, 2023

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