top of page

Der Begleiter

(Eine Kurzgeschichte)

Es hatte alles so gut angefangen. Sie döste gerade in der Mittagssonne und genoss, mit dem Rücken an die wärmende Hauswand gelehnt, die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühjahrs, als sie Schritte auf der anderen Straßenseite vernahm. Schuhe mit schmatzenden Sohlen auf Asphalt. Träge wandte sie den Kopf und inspizierte die Geräuschquelle aus den Augenwinkeln heraus. Ein großgewachsener, drahtiger Typ mit Sonnenbrille, eine Hand lässig in der Hosentasche, den Zeigefinger der anderen Hand in einer schwarzen Lederjacke verhakt, steuerte lächelnd auf sie zu.

Die Augen zusammenkneifend und den Kopf etwas zur Seite neigend, um nicht von den Sonnenstrahlen geblendet zu werden, setzte sie sich aufrecht hin. Er blieb im Gegenlicht stehen. Was sie dort im Halbdunkel erkennen konnte, wirkte auf den, wegen der Frühlingssonne leicht verschwommenen, ersten Blick nicht unsympathisch, und als er sie ansprach, klang seine Stimme etwas heiser, verlegen vielleicht, doch auch angenehm warm und freundlich. Er wollte sie zu einem Spaziergang einladen. Warum auch nicht, etwas Bewegung konnte nicht schaden.

Schon nach wenigen Schritten übernahm er die Führung, ihr sollte es recht sein. Schließlich war sie neu hier und die Wege noch fremd und ungewohnt. Willig ließ sie sich auf einen schmalen Pfad dirigieren, an dem kleinen Bach entlang, dessen gleichmäßiges Rauschen sie nachts von ihrem Zimmer aus hören, neulich bei Regen, sogar riechen konnte.

Am Ortsrand kamen sie an einem Feld vorbei, auf dem Leute Blumen schnitten, jemand winkte. Der Typ zeigte hierhin und deutete dorthin, dauernd musste sie den Kopf drehen und wenden, um seinen Gesten folgen zu können. Einmal klatschte er sogar in die Hände, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und als sie erschrocken zu ihm hinsah, bemerkte sie hart aufeinandergepresste Lippen.

Der Weg führte jetzt aus dem Ort hinaus, vorbei an den letzten Häusern, als plötzlich, aufgescheucht von ihren Silhouetten, fette, schwarze Vögel von einem der Bäume aufflogen. Sie erschrak. War sie wieder einmal zu gutgläubig und treuherzig einem Unbekannten gefolgt? Sie dachte an ihr neues Zuhause, das Zimmer, wo sie erst vor Kurzem eingezogen war, die ungewohnten Sitten und Gebräuche, die fremde Sprache voller unbekannter Kanten und Klippen, und die Regeln, die sie erst verstehen und lernen musste.

Es ging einen langgestreckten Hügel hinauf und je länger sie so bergan stapften, desto mehr fuchtelte ihr eigenartiger Begleiter mit seinen Armen. Von seinen Achseln wehte ein scharfer Geruch herüber. Kurzatmig tauchte er links oder rechts neben ihr auf, was sie in einen regelrechten Schlingerkurs versetzte, gestikulierte ausladend und unverständlich, trat ihr dann noch gegen die Ferse, unabsichtlich zwar, aber doch so fest, dass sie aufschrie. Als sie sich die schmerzende Ferse rieb, blieb auch er stehen, stieß in schnellem Rhythmus unangenehme, saure Luftwolken zwischen seinen Lippen hervor, stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihr dabei missmutig in die Augen. Seine buschigen, zusammengekniffenen Brauen bereiteten ihr plötzlich Angst. Konnte sie sich so getäuscht haben?

Doch dann streckte er den Oberkörper durch, seine Hände rutschten von der Hüfte, er hob den Kopf und seine Gesichtszüge entspannten sich. Als sich für einen kurzen Moment ihre Augen trafen, kam ihr sein Blick wieder freundlich und versöhnlich vor, und so ging es weiter, über Wiesen mit unzähligen Kuhfladen und dahinter auf einen Wald zu.

Ihr Begleiter bewegte sich jetzt ruhiger, seine Arme wiegten gleichmäßig im Rhythmus ihrer Schritte und der stechende Geruch hatte nachgelassen.

Sie marschierten in den Wald hinein, duckten sich unter herabhängenden Ästen weg, traten störrische Grasbüschel zur Seite und bogen auf schmaler werdende Pfade ab. Als der Wald immer dunkler wurde, zog jäh ein vages Gefühl von Bedrohung durch ihre Brust. Bilder drängten sich in ihren Kopf, die kleine Nadelstiche in ihre Muskeln jagten. Vorsichtig horchte und spähte sie zwischen die dichten Tannen, setzte ein Bein vor das andere, gleichzeitig bemüht, den Abstand zu ihrem Begleiter nicht zu groß werden zu lassen. Denn wenn sie nicht allein und orientierungslos in dem kalten Dickicht zurückbleiben wollte, musste sie diesem Typ folgen.

Der merkte nichts von ihrer Angst, drang immer tiefer in den Wald ein, wo die Zweige der Bäume und Sträucher jetzt so dicht wuchsen, dass der Pfad kaum mehr zu erkennen war. Mürrisch trat er gegen herabgefallene Äste, wischte fluchend von Morgentau tropfende Spinnweben beiseite oder bog dornige Zweige zurück, stapfte aber weiter unbeirrt durch das Unterholz.

Doch schließlich lichtete sich der Wald und Sonnenstreifen brachen durch die dichten Tannenreihen, ein frischer Luftzug verdrängte den feuchten Moder und beruhigte ihre Panik. Einzelne Vogelstimmen drangen an ihr Ohr. Zwar surrten die Bilder noch immer durch ihren Kopf, aber das Gefühl, einer Bedrohung entronnen zu sein, erleichterte sie. Sie beschleunigte ihre Schritte und trat zusammen mit ihrem Begleiter aus dem Wald heraus. Vor ihnen lag eine Straße mit Häusern und grünen Gärten und parkenden Autos davor. Fast meinte sie, den Duft der in der Frühlingssonne erwärmten Hauswand, ihres neuen Zuhauses wahrzunehmen. Es konnte nicht mehr weit sein. Da sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich am Straßenrand die Seitentür eines parkenden Transporters öffnete.

(Hannes Jahn, Kurzgeschichte, 2023)



bottom of page